4. Schwache Staaten und schwache Institutionen — en-dogene Entwicklungschancen und Friktionen in Entwicklungsländern
4.1. Schwache Staaten und fehlende institutionelle Stärke – Elitenversagen und Staatsversagen
Globalisierung verstärkt und katalysiert nur Problemstellungen, sie ist selbst keine originäre Verursachung: Durch die engen Verbindungen werden durch den Modus der Gleichzeitigkeit endogene Probleme von Land A sehr schnell zur dynamischen exogenen Problemstellung von Land B. Daher muss der Fokus nun auf die zugrunde liegenden endogenen Problemlagen fallen. Im Rahmen der entwicklungstheoretischen Debatte hat sich seit dem deutlichen Scheitern der antietatistischen neoliberalen Entwicklungskonzepte ein neues Staatsverständnis durchgesetzt und akzentuiert. Aus dem bloßen Minimalstaat wurde der komplementär zur Zivilgesellschaft und dem Markt agierende und auch intervenierende Staat. Erst in einem harmonischen und abgestimmten Bezug von Markt, Staat und Zivilgesellschaft liegt die Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung, wie Dirk Messner überzeugend darlegt. Insbesondere die regulierende Funktion des Staates wurde in der neueren Debatte immer wieder hervorgehoben. Das neue Zauberwort heißt nun Institutionen . Deren Bedeutung wird insbesondere von Ökonomen wie Stiglitz und Rodrik, aber auch von Politikwissenschaftlern wie Fukuyama betont, die hierin den Schlüssel für eine realisierbare Entwicklungsperspektive sehen. Schließlich sind die Institutionen für die Leistungsfähigkeit und die Effizienz eines Staates und einer Gesellschaft verantwortlich. Diese Erkenntnis ist bei genauerer Betrachtung der Entwicklungsländer sehr plausibel. Die Entwicklungsländer sind zumeist ethnisch recht heterogen, besitzen geringe industrielle Kapazitäten und sind gesellschaftlich oft tribal oder zumindest traditional geprägt. Oftmals fehlen sogar einheitsstiftende nationale Identitäten. Die Fokussierung auf den Markt im Rahmen dieser Defizite übersah nicht nur Defizite im Markt selbst, sondern auch den ungenügenden Entwicklungsstand vieler Dritte-Welt-Länder. Nur durch Rechtssicherheit, klare Eigentumsrechte, verantwortliche Politiker und Eliten und Mechanismen zur friedlichen Austragung von Konflikten können Entwicklungsprozesse auch ermöglicht und aufrechterhalten werden. Zudem bedarf es staatliche Interventionen um öffentliche Güter bereitzustellen. Nimmt man nun die ärmeren Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika, so sieht man, dass diese Länder allesamt durch schwache Staaten, Korruption und innere Konflikte gekennzeichnet sind. In einigen Fällen ist der Staatsapparat sogar völlig kollabiert, wie in Somalia. Korrupte Eliten bedienen sich selbst und versuchen den Staat auszubeuten. Dies wird besonders in den ressourcenreichen Staaten deutlich, in denen der Fluch der Ressourcen eigennutzinteressierte Eliten dahinverleitet, sich selbst zu bereichern und über finanzielle Wohltaten sich politische Unterstützung zu kaufen. Zudem fehlen aus diesem Grund in vielen Staaten demokratische Partizipationsmöglichkeiten. Autoritäre, elitäre Zirkel begünstigen nur ihre eigene Klientel und dies führt zu beständigen, oft gewaltsamen Verteilungskämpfen um Macht, Reichtum und Posten. Auf diese Weise aber können aber weder interne Konflikte noch innere Probleme wie Krankheiten, Dürren oder Armut und Ungleichheit bewältigt werden. Durch den ständigen Konflikt um Posten und Pfründe kommt es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, unter denen die Wirtschaft und die Zivilbevölkerung zu leiden haben. Auch können sich so weder in der Landwirtschaft, noch in der Industrie Strukturen herausbilden, die auf einem hochdynamischen Weltmarkt mit hoher Wettbewerbsintensität bestehen würden. Wirtschaftliche Entwicklung kommt dabei besonders durch Exportorientierung zustande, wie die Schwellenländer Ost- und Südostasiens gezeigt haben. Dies bleibt aber angesichts einer schwachen Landwirtschaft und Subsistenzwirtschaft, fehlender Rechtssicherheit und allgemein wegen fehlender komplementärer Faktoren ein reiner Wunschtraum in vielen Entwicklungsländern. Mit fehlenden komplementären Faktoren sind eben wichtige Voraussetzungen für Entwicklung wie gebildete Arbeitskräfte, eine funktionierende Gesundheitsversorgung, Frieden, Rechtssicherheit, politische und wirtschaftliche Freiheiten und Handlungsspielräume sowie eine Verantwortlichkeit der Eliten (keine Willkürherrschaft der Bürokratie und bürokratische Erstickung der Wirtschaft) gemeint. Daher können die meisten Entwicklungsländer weder die großen Problemen im Inneren, noch die von außen an sie herangetragenen Problemstellungen adäquat lösen. Entwicklungszusammenarbeit und generell Finanzhilfen bringen auch selten Entwicklungserfolge, da der Rahmen für Entwicklung fehlt. Dies scheint auch ursächlich der Grund dafür zu sein, dass Entwicklungshilfe seit den 1990er Jahren in íhrem Nutzen und ihrer Sinnhaftigkeit zunehmend hinterfragt wird. Aufgrund der durch Elitenversagen und Korruption verkrusteten Strukturierung des jeweiligen Staates fehlen greifende Mechanismen und Prozesse, um die Finanzhilfen nachhaltig nutzbar zu machen. Stattdessen bedienen sich Regierungen, lokale Beamte und auswärtige Akteure. Es fehlen daher oft fähige und wirkungsvolle Institutionen, um Neuerungen und Reformen effizient zu implementieren. Auf diese Weise kommen viele Entwicklungsländer nicht heraus aus dem Teufelskreis von Armut, Ungleichheit, Krieg und Gewalt, Elitenversagen, Isolation und fehlender weltwirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit.
4.2. Staats- und Institutionenaufbau als Antwort auf Entwicklungsdefizite?
Wie oben schon angeführt, spielen in den heutigen Debatten um Entwicklung und Entwicklungsperspektiven die Funktionsfähigkeit von staatlichen Institutionen und Rahmensetzungen die entscheidende Rolle. Aus Sicht der Wirtschaftstheorie wird dabei primär auf zwei Umstände verwiesen, die auch die Kritik gegen den liberalen Washington Consensus fundiert hatten: Einerseits sind Märkte pauschal eben nicht effizient und voll transparent. Daher kommt es immer wieder zum Marktversagen, das durch staatliche Interventionen in seinen sozialen und politischen Folgen abgemildert werden muss. Andererseits wird pauschal davon ausgegangen, dass Märkte bestimmte Güter wie öffentliche Güter nicht ausreichend bereitstellen. Daher bedarf es staatlicher Institutionen und Interventionen. Funktionsfähige Institutionen sind daher nach Rodrik, Stiglitz und auch Fukuyama unerlässlich für Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum. Dies lässt sich insbesondere an den wenigen Erfolgsgeschichten von Entwicklungsländern nachzeichnen. Der Erfolg der ost- und südostasiatischen Schwellenländer lag u.a. an den guten, funktionstüchtigen Institutionen in diesen Ländern. Südkorea, Taiwan oder Singapur haben sich eben nicht auf die Konzepte vom Minimalstaat oder einer sofortigen Liberalisierung verlassen. Stattdessen haben diese Länder über strategische Industriepolitik und Exportförderung ihre Volkswirtschaften wachsen lassen. Dabei wurde aber auch darauf geachtet, nationale Bildungssysteme zu verbessern und soziale Missstände und Ungleichheiten so wirksam wie möglich einzuhegen. Dadurch gelang es Ländern wie eben Südkorea eine rasante Entwicklung an den Tag zu legen – obschon in den 1950er Jahren Guinea wirtschaftlich vor Südkorea stand. In diesen Fällen haben sich funktionierende Staaten und fähige und funktionierende Institutionen und Rahmensetzungen bewährt. Daher liegt die Perspektive von Entwicklung deutlich auf der Förderung von funktionsfähigen Institutionen und einem fähigen Staat. Je nach jeweiligem Entwicklungsstand und Verfasstheit des Landes muss das Ziel sein, über nationen‑, staats- und institutionenbildende Prozesse die Entwicklungsfähigkeit dieser Länder zu verbessern und so Perspektiven für Entwicklung zu schaffen. Dabei ist in stark tribal geprägten Ländern zunächst die Förderung der Nationen- und Staatsbildung wichtig. Die Schaffung einer kollektiven Identität über ausgreifende Bildungs- und Sozialisationsmaßnahmen und weitergehende Partizipationschancen muss in solchen Staaten parallel zur Förderung funktionsfähiger Institutionen geschehen. Diese Prozesse bedingen sich gegenseitig und bedürfen einander. In diesem Punkt zählen aber jeweilige Länderspezifika: Aufgrund anderer historischer und kultureller Traditionen konnten die ost- und südostasiatischen Länder auf länger bestehende kollektive und staatlich-nationale Identitäten zurückgreifen, was für diese Länder durchaus von Vorteil war und ihre schnelle Entwicklung miterklärt. In anderen Ländern ist dies nicht der Fall. Allerdings sind solche Identitätsentwicklungen auch nicht zwangsläufig von Erfolg gekrönt. Partikularidentitäten können durchaus auch wieder aufbrechen und durch Konflikte Entwicklung hintertreiben oder zurückwerfen. Dies sieht man beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien. Nichtsdestotrotz drehen sich die heutigen Entwicklungsperspektiven primär um die Schaffung von Institutionen und fähigen und funktionstüchtigen Staaten. Daneben soll die Entwicklung einer Zivilgesellschaft mit unterfütternden kollektiven Identitäten und einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft treten. Wie schon vorher betont, geht es auch um das umfassende Zusammenwirken entsprechender Reformen. Dies soll jedoch für Experten wie Stiglitz primär durch funktionsfähige Institutionen sichergestellt werden. Internationale Entwicklungszusammenarbeit soll hierbei ergänzend und unterstützend wirken, wobei insbesondere eine kohärente und umfassende Strategie in Abstimmung mit dem Entwicklungsland wichtig ist. Ausgehend von dieser Diskurslage und den damit verbundenen Entwicklungsperspektiven gibt es auch seit einigen Jahren eine Trendwende in der Entwicklungspolitik. Entwicklungszusammenarbeit soll vermehrt an Aspekte wie die Beachtung der Menschenrechte und good governance geknüpft werden. Staaten, die sich an Menschenrechte halten, ihren Bürgern Partizipationschancen einräumen und Rechtssicherheit bieten, sollen im Rahmen westlicher nationaler und multilateraler Entwicklungszusammenarbeit bevorzugt werden. Die Realisierung dieses Konzeptes stößt allerdings realiter auf entsprechende Grenzen, da gerade die ärmeren Problemfälle diese Konditionen oft nicht erfüllen. Zudem nehmen solche Entwicklungsprozesse oftmals längere Zeit in Anspruch und können Rückschläge erleben.