2. Die großen entwicklungspolitischen Debatten und ihre Entwicklungsperspektiven
2.1. Die etatistischen entwicklungspolitischen Diskurse der 1950er, 1960er und 1970er Jahre
Im Folgenden sollen in einem groben Querschnitt die größeren Streitpunkte und Unstimmigkeiten der großen entwicklungstheoretischen Diskurse der 1950er bis 1980er Jahre präsentiert werden. Diese Debatten dienen dann als Basis um aufzuzeigen, wie diese unter komplexen Theorien scheiterten. Als in den 1950er und dann verstärkt in den 1960er Jahren die Dekolonialisierung einsetzte, stellte sich automatisch die Frage nach der Zukunft der ehemaligen Kolonien. Dabei wurde auf eine rasche Modernisierung gesetzt, durch die diese Länder in die Lage versetzt werden sollte, auf Augenhöhe mit den Industrieländern zu kommen. Die Zielstellung der nachholenden Industrialisierung war dabei mehr oder minder genereller Konsens über die ideologischen und theoretisch-akademischen Gräben hinweg bei den verschiedenen Ansätzen und Konzepten , ebenso wie die etatistische Ausrichtung der Modernisierung . Die Entwicklungsperspektive war daher eine allen Ländern der Dritten Welt gemeinsame Strategie der nachholenden Industrialisierung, wobei bei allen Ansätzen auf Großprojekte wie Infrastruktur und große Industriebetriebe gesetzt wurde. Der Staat sollte für Investitionen sorgen und verstärkt Industrialisierung betreiben. Dies war die homogene Entwicklungsperspektive für die als homogen angesehenen Länder der Dritten Welt. Spezifische Differenzierungen nach Ländern wurden nicht vorgenommen. Nur der Weg und die Instrumente hin zur nachholenden Industrialisierung wurden je nach Theorieansatz anders vorgezeichnet für die Länder der Dritten Welt. Allerdings ging es auch hier um verallgemeinerte, nach der Theorie immer anwendbare Pauschalstrategien. Innerhalb der divergierenden Theorieansätze fand der ideologische Kampf zwischen Links und Rechts seinen Ausdruck, gleichwohl es auch diverse Substrukturierungen innerhalb dieser Diskurse existierten. Aus Platzgründen muss ich mich hier aber auf die zentralen Leitlinien beschränken. Die „rechten, bürgerlichen“ Modernisierungstheorien drehten sich primär um endogene Aspekte, die die Entwicklung dieser Staaten behinderten oder gar verhinderten. Der Fokus lag aber primär immer nur auf der wirtschaftlichen Entwicklung, die eine automatische und gleichzeitige Induzierung soziopolitischer Modernisierungen im politischen System und in der Gesellschaft nach sich ziehen sollte. Die linken Theorien, die sich verstärkt in den 1960er Jahren aus den marxistischen Imperialismustheorien und dem Neomarxismus entwickelten, fanden Ausdruck im Rahmen der Dependenziatheorien und der neomarxistischen Weltsystemtheorie. Diese Ansätze zentrierten sich allein auf die kapitalistische Struktur des Weltwirtschaftssystems und dessen Ausbeutung und Benachteiligung der armen Länder der Dritten Welt.
2.1.1. Die Entwicklungsperspektiven der bürgerlichen Entwicklungsökonomie
Im Rahmen der bürgerlichen Entwicklungsökonomik ging es im spezifischen um die Schließung der Investitionslücke und die fehlende Kapitalintensität der Entwicklungsländer. Nach dem Model von Rostow und später von Harrod-Domar fehlte den Entwicklungsländern im Vergleich zu den Industrieländern einfach nur genügend Kapital, so dass aus dieser Logik heraus Kapitaltransfer und Investitionen in Infrastruktur und Industrie ausreichen würden um diese Länder zu modernisieren. Die Entwicklungsperspektive für diese Länder beschränkte sich also auf die durchaus optimistische Sichtweise, dass nur genügend Kapital transferiert und investiert werden müsse um die Lücke zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern auch schließen zu können. Hierbei sollte der Staat (daher etatistische Zentrierung der Entwicklungspolitik) im Rahmen der damals dominanten keynesianischen Wirtschaftsdoktrin über gezielte Investitionen aktiv werden. Dass die bloße unterschiedliche Kapitalausstattung wohl kaum der einzige Unterschied zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern war und ist, wurde im Rahmen dieser unterkomplexen monokausalen Faktortheorien ausgeblendet. Daher erwiesen sich der Kapitaltransfer mittels Entwicklungshilfe und die Initiierung von industriellen Großprojekten und Infrastrukturvorhaben als nicht ausreichend um in den meisten Entwicklungsländern nachhaltiges Wachstum zu generieren. Stattdessen bedienten sich neopatrimoniale und korrupte Eliten in viel zu vielen Fällen an diesen Geldern. Aufgrund fehlender Wettbewerbsfähigkeit versagten die künstlich geschaffenen Staatsindustrien zudem, aus fehlender Anbindung an den Weltmarkt, wegen fehlender Innovationspotentiale oder wegen schlechtem Management. Das Problem war dabei letztlich, dass die Defizite der Entwicklungsländer weit über das Fehlen von ausreichender Kapitalakkumulation hinausgingen und gehen. Zwar wurden die grundlegenden endogenen Entwicklungsdefizite erkannt, doch sah man als Allheilmittel und Ansatzpunkt zur Modernisierung und Defizitbeseitigung alleinig wirtschaftliches Wachstum an. Die sich daraus ableitenden Entwicklungsperspektiven waren recht optimistisch und prophezeiten schnellen Fortschritt und Modernisierung. Aber dieser unterkomplexe Ansatz mitsamt seinen Entwicklungsperspektiven scheiterte an der Bewährung in der Empirie in den 1960er und spätestens in den 1970er Jahren.
2.1.2. Die Entwicklungsperspektiven der linken Theoriebildung
Ausgehend von den marxistischen Imperialismustheorien bildeten sich die Dependenziatheorien und die Weltsystemtheorie. Beide Theoriestränge mit ihren diversen Vertretern und Substrukturierungen betonten, dass die Ursachen für die Unterentwicklung strukturell im kapitalistischen Gepräge des Weltwirtschaftssystems zu verorteten seien und dass die Ausbeutung und strukturelle Deformierung der Entwicklungsländer im und durch das kapitalistische Weltsystem und die frühere koloniale Herrschaft entwicklungshemmend wirke. Bei diesen Ansätzen, der im Rahmen der Weltsystemtheorie durch Wallerstein und bei den Dependenziatheorien von Frank und Cardoso/Faletto geprägt wurden, stehen daher monokausal die exogenen Entwicklungsfriktionen im Fokus. Beide Theoriestränge gehen – verkürzt gesagt – davon aus, dass die Entwicklungsperspektiven der Dritte-Weltländer in der kapitalistischen Weltwirtschaft sehr schlecht sind. Aus diesem Grund wurde eine Abkoppelung vom Weltmarkt, eine Verbesserung der weltwirtschaftlichen Terms of Trade für die Entwicklungsländer im Rahmen einer neuer Weltwirtschaftsordnung oder gar ein völliger Umsturz des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems gefordert um eine Entwicklung der Dritte-Welt-Länder überhaupt erst zu ermöglichen. Erst dann können die Entwicklungsländer ihre periphere Stellung im Weltsystem verlassen. Mit Auflösung der Differenzierung von Zentrum und Peripherie in der Weltwirtschaft würden daher die Entwicklungsländer in die Lage versetzt, die bisher exogen verhinderten Industrialisierungen und Modernisierungen erfolgreich durchzuführen – so zumindest die Theorie. Allerdings wurde die so möglich werdende Entwicklung auch nur als nachholende Industrialisierung gedacht. Wie Ulrich Menzel betont, laufen hier linke wie bürgerlichen Theorien in ihren Entwicklungsperspektiven gleich. Nur die linken Theorien sehen als voraussetzungsvolle Bedingung der Möglichkeit für Entwicklung noch die Umgestaltung der Weltwirtschaft und oder der Außenhandelsbeziehungen dieser Länder. Diese Fokussierung auf äußere Hindernisse und Entwicklungschancen und Bedingungen ist unterkomplex und übersieht die endogenen Probleme der Entwicklungsländer völlig, die bei den bürgerlichen Theorien über die wirtschaftliche Entwicklung thematisiert wurden. Allerdings begannen auch linke Theoretiker innere Problemstellungen und endogene Verursachungen anzuerkennen, was aber innerhalb der linken Theorieansätze auch zu entsprechenden Theoriestreits führte. Zudem brachte die Abkopplung vom Weltmarkt – wie dies einige südamerikanische Länder getan hatten – keinerlei positive Entwicklungsstimuli. Im Gegenteil, die vom linken Paradigma vorgeschlagene Entwicklungsstrategie der Abkopplung führte zu enormen wirtschaftlichen Rückschlägen. Daher zeigte sich auch hier in der Empirie, dass die durch die linken Theorien aufgezeigten Entwicklungsperspektiven so nicht stimmig waren. Wieder dominierte monokausale Zentrierung auf einen Faktor im Diskurs, das bewusste und ideologischweltanschaulich induzierte Absehen von den komplexen Zusammenhängen und das akademisch eitle Beharren auf dem eigenen Ansatz. Die Dependenzia- und die Weltsystemtheorie verschwanden peu a peu aus der entwicklungspolitischen Debatte zu Anfang der 1980er Jahre. Die damals auch allmählich deutlich werdende Differenzierung der Entwicklungsländer mit dem Aufkommen der südost- und ostasiatischen Schwellenländer zeigte in den 1980er Jahren, dass diese Theorieansätze sich nicht in der Realität bewähren konnten.
2.2. Die Marktstrategien – die neuen entwicklungspolitischen Ansätze der 1980er Jahre
Weder die linken Dependenziatheorien der Intellektuellen, noch die bürgerlichen keynessianischen Entwicklungsökonomiemodelle konnten durchschlagenden Erfolg und die Realisierung ihrer Entwicklungsperspektiven in der Praxis bieten . Der Misserfolg der Entwicklungsökonomie hatte schon in den 1970er Jahren bei der Weltbank zu einem teilweisen Paradigmenwechsel geführt, da man statt industrieller Großprojekte sich nun auf die Bekämpfung der Armut fokussierte. Bedürfnisbefriedigung der Ärmsten – dies war die entwicklungsleitende Zielformel für die Weltbank unter ihrem Präsidenten McNamara. Dies war allerdings noch keine neue paradigmatisch-theoretische Neuausrichtung. Anfang der 1980er Jahren gab es allerdings in vielen Entwicklungsländern eine schlimme Verschuldungskrise: Der durch zunächst sehr billige internationale Kredite finanzierte Versuch industrielle Großprojekte zu finanzieren und sich über Binnenmarktorientierung unabhängig zu machen von der Weltkonjunktur, misslang völlig: Aufgrund einer Weltwirtschaftskrise stiegen Zinsen und Rohstoffpreise an und stürzten die verschuldeten Entwicklungsländer in ernste Krisen. Aus diesem Grund bekam eine neue Variante der bürgerlichen Modernisierungstheorie Oberwasser. Der anti-etatistische neoklassische und neoliberale Theoriestrang der ökonomischen Theorie. Der Neoliberalismus war in den USA und Großbritannien durch Reagan und Thatcher stark propagiert wurden und bestimmte weitestgehend die wirtschaftspolitischen Agenda der westlichen Welt. Die Fokussierung auf den Staat und dessen eminenter Rolle wurde durch eine radikale Ablehnung der staatlichen Rolle abgelöst. Aus dem interventionistischen Entwicklungsstaat wurde der Minimalstaat, der bestenfalls den Rahmen für den Markt bereiten sollte. Der Fokus lag nun eindeutig auf dem Markt und dem freien Spiel der Kräfte. Das neoliberale Entwicklungsparadigma zeichnete sich dadurch aus, dass durch Strukturreformen einerseits der Einfluss und Macht des Staates und andererseits Wettbewerbsbeschränkungen abgebaut werden sollten. Auf diese Weise sollte ein freier Markt geschaffen werden, der im Rahmen dieses Paradigmas Entwicklung und Fortschritt garantieren sollte. Denn unbeschränkter Wettbewerb, freier Handel, die Öffnung hin zum Weltmarkt und Welthandel wie die Teilnahme an selbigen würden laut diesem Paradigma automatisch zu mehr Wachstum und Entwicklung in den Entwicklungsländern führen. Das so generierte Wachstum würde mittels trickle-down Effektes auch bis zu den ärmsten Bevölkerungsschichten durchsickern. Kurzzeitige Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsprobleme aufgrund der wirtschaftlichen Öffnung und einer marktradikalen Schocktherapie wären bloße Anpassungskosten, die temporär wirkten und im Interesse langfristigen Wachstums zu verkraften seien. Diese grundlegenden Vorstellungen und Strategien wurden als so genannter Washington Consensus bezeichnet und dominierten die entwicklungspolitische Debatte ausgehend von der angelsächsischen Welt seit den 1980er Jahren. Grundlage dieser recht optimistischen Entwicklungsperspektiven ist die neoklassische Wirtschaftstheorie. Zum einen besteht die Annahme, dass aufgrund von globaler Liberalisierung und globaler Handels- und Austauschprozesse es zu einer globalen Konvergenz von Löhnen, Kapitalintensität und Lebensstandards kommen wird. Dies ist ein Grundparadigma der Neoklassik. Daher ist nach dieser theoretischen Annahme die Marktöffnung zwingend erforderlich um Wachstum zu generieren und die Entwicklungsländer besser zu stellen. Zudem gelten Marktprozesse als sehr effizient. Marktversagen existiert in diesem Paradigma nicht. Fehlende Entwicklung wird einerseits auf die fehlerhaften und ineffizienten Interventionen des Staates, wie – in Verbindung damit – auf veraltete und wettbewerbshinderliche Strukturen reduziert. Daher müssen die wirtschaftlichen Strukturen der Entwicklungsländer angepasst werden, also wie aufgeführt Wettbewerb und Marktöffnung etabliert werden.
Die internationalen Finanzinstitutionen bedienten sich seit den 1980er Jahren aufgrund der politischen Hochkonjunktur des Neoliberalismus dieses Ansatzes. Stärkung des Marktes über Reformen und das Erreichen einer makroökonomischen Gleichgewichtslage durch Inflations- und Defizitssenkung wurden im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen den Entwicklungsländern aufsuggeriert und auch aufgezwungen. Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung sowie damit verbunden der Rückzug des Staates standen als konkrete Strategien dafür zur Verfügung. Dabei spielten die konditionierten Strukturanpassungsprogramme eine große Rolle: Finanzielle und Beratungshilfe wurde an die Erfüllung bestimmter Auflagen gekoppelt, die eben dieser neoliberalen und neoklassischen Agenda entsprangen. Allerdings blieb auch dieser Ansatz nicht lange unwidersprochen. Schon in den 1980er Jahren formierte sich Kritik an dieser Entwicklungsstrategie: Dieses Paradigma würde unvorhergesehene soziale und gesellschaftliche Kosten verursachen. Später weitete sich diese Kritik auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaft selbst aus auf die theoretischen Grundlagen dieses Paradigmas. Hier waren so prominente Volkswirte wie Rodrik und vor allem der bekannte ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, die Wortführer. Daher wurden die damit verbundenen arg optimistischen Entwicklungsperspektiven allein schon aus theoretischer Sicht bezweifelt. Ganz zu schweigen von dem Umstand, dass in der Empirie sich diese Entwicklungsperspektiven auch nicht bewiesen hatten. Die erfolgreichen asiatischen Schwellenländer hatten eine sehr viel weniger marktzentrierte Wirtschaftspolitik betrieben, in der der Staat sehr viel stärker eingriff. Erst als ihnen verfrüht auch vermehrt marktliberale Politiken auferlegt wurden, kam es zusammen mit inneren Ungleichgewichten zu der Asienkrise von 1997. Diese gilt inzwischen als Menetekel für die ideologische Einseitigkeit und theoretische Verblendung dieses Ansatzes. Die funktionale Notwendigkeit starker Institutionen, eines abgestimmten und sequenzierten, seriellen Liberalisierungsprozesses wurde dabei zu lange von den verantwortlichen neoliberalen Chefökonomen der Washingtoner Finanzorganisationenverkannt.
Die optimistischen Entwicklungsperspektiven einer dynamischen, pauschal vom Markt getragenen Entwicklung und eines Durchsickereffektes bis hin zu den armen Bevölkerungsschichten durch das Vertrauen auf Markt, Marktöffnung und Privatisierung hatten sich nicht bewahrheitet. Die Globalisierung hatte eben nicht automatisch die Konvergenz der nationalen Volkswirtschaften befördert wie theoretisch angenommen. Die Entstaatlichung der Entwicklung durch Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung war zu einem bloßen ideologischen Selbstzweck geworden, bei dem andere Faktoren vernachlässigt wurden. Im Folgenden wird es nun darum gehen, die in der heutigen Diskussion zirkulierenden Ansätze und Perspektiven vorzustellen. Dies soll passieren anhand der Präsentation wichtiger Faktoren und Bedingungen von Entwicklung. Dabei soll aber betont werden, dass eben nicht ein Faktor allein, sondern erst die funktionale und länderspezifische Integration und Abstimmung dieser Faktoren in einer umfassenden Gesamtstruktur zu einer positiven Entwicklung der jeweiligen Länder führen kann. Entwicklungsperspektiven müssen daher auf umfassenden und komplexen Ansätzen und Modellen beruhen um auch nur annähernd realiter nutzbar und realisierbar zu sein. Dies war im Rahmen der hier vorgestellten Faktortheorien aber nicht der Fall, da diese Konzepte unterkomplex waren und viel zu kurz griffen. Nicht umsonst spricht man daher auch spätestens seit den 1980er und 1990er Jahren vom Ende der großen Theorien, die mit einfachen und weit reichenden Welterklärungen Entwicklung modellieren wollten. Stattdessen geht es darum, die Komplexität der Entwicklung mitsamt ihren Kontingenzen und Friktionen über die Vielzahl interdependenter und überlappender Prozesse, Faktoren und Strukturen nachzuzeichnen: Das spezifische Zusammenwirken der Faktoren angesichts endogener und exogener Probleme ist letztlich die Determinante für den Entwicklungspfad eines Landes.