Dieser Artikel wird mit freundlicher Genehmigung der “MarineForum — Zeitschrift für maritime Fragen” veröffentlicht.
Für Reeder und Ökonomen ein Traum, für Umweltschützer ein Albtraum, aber die Öffnung der Nordostpassage – der Seeweg nördlich Sibiriens nach China – steht seit mehreren Jahren auf der Tagesordnung. Die globale Erwärmung und der dadurch bewirkte Rückgang des Eises in der Arktis eröffnet diese Möglichkeit, und in den beiden vergangenen Sommern – die Route ist auf der ganzen Länge zwischen Juni und September befahrbar – haben erstmals westliche Reedereien Durchfahrerlaubnisse bekommen.
Interessant ist die Nordostpassage, die in Russland »Nördlicher Seeweg« (Severnyy morskoy put) genannt wird, weil der Seeweg nördlich des eurasischen Kontinents nach Ostasien wesentlich kürzer ist als die Suez-Route. Beispielsweise ist die Strecke Hamburg – Yokohama mit rund 6.600 sm rund 40 Prozent kürzer als die sonst üblichen 11.400 sm. Dadurch sind die Brennstoffkosten wesentlich geringer. Beispielsweise gibt die Bremer Reederei Beluga Shipping an, bei ihrer Fahrt im Vorjahr etwa 100.000 USD eingespart zu haben.
Alle an der verstärkten kommerziellen Nutzung der Passage Beteiligten unterstreichen, dass der verringerte CO2-Ausstoss letztlich der Arktis zugute kommt, dessen Erwärmung eben aus diesem Grund die Fahrten erst kommerziell interessant machen. Umweltschützer weisen auf die Gefahren hin, wie steigende Ölaustritte, Wasserverschmutzung und schrumpfende Lebensgebiete, welche Fauna und Flora bedrohen. Invasive Arten können eingeschleppt werden und die ökologische Balance verändern.
Ein Blick zurück
Rund 500 Jahre lang suchten europäische Seefahrer einen Seeweg nördlich von Asien, um die Fahrt nach Fernost abzukürzen. Wilhelm Barents erreichte als erster Westeuropäer Nowaja Semjla, dessen Nordkap heute als Beginn der Nordostpassage betrachtet wird. Die russischen Pomoren besegelten den westlichen Teil der Route bereits lange vor ihm, während der zentrale und östliche Teil später durch die Kosaken erforscht wurde. Dem schwedischen Polarforscher Adolf Nordenskjöld gelang 1878/79 erstmals die Fahrt durch die gesamte Route. Auf Teilabschnitten wurde der Seeweg bereits zu Zeiten des Zaren genutzt, doch im größeren Stil erst ab 1935. Die Sowjetunion setzte umfangreiche Ressourcen ein, den Nördlichen Seeweg für den internen Verkehr zu öffnen. Teils diente er der wirtschaftlichen Erschließung Sibiriens, teils der Einrichtung von Militäranlagen für Marine und Luftwaffe. Die militärstrategischen Konsequenzen des Kalten Krieges verhinderten neben der Eisdecke, dass andere als sowjetische Reedereien die Nordostpassage benutzen konnten.
Einige Einheiten der Baltischen Flotte verlegten über die Nordostpassage nach Fernost, als 1935 Krieg gegen Japan drohte, wohingegen während des Zweiten Weltkrieges über sie Nachschub gesichert wurde. Der deutsche Hilfskreuzer Komet erhielt 1940 die Erlaubnis, durch die Benutzung der Nordostpassage der Royal Navy auszuweichen und zum Kaperkrieg im Pazifik zu verlegen.
Die Möglichkeiten
Schifffahrtsexperten rechnen damit, dass Schiffe – vorausgesetzt ist höchste Eisklasse, laufende Eisberatung und sorgfältige administrative Vorbereitung – bei weiter voranschreitender Erwärmung und damit längerer Fahrtsaison drei Passagen zwischen Europa und Ostchina, Korea und Japan schaffen können. Fahrten weiter südlich ergeben keine Seemeileneinsparungen mehr.
In diesem Sommer waren zwei Beluga-Schwergutfrachter unterwegs, um Teile für ein neues Kraftwerk in die russische Hafenstadt Surgut zu transportieren. Für die nächsten Jahre haben die Bremer die Durchführung weiterer Projekte geplant, die der Versorgung der russischen Bergwerks- und Ölindustrie dienen sollen. Im Vorjahr sandte die Reederei zwei Schiffe von Wladiwostok nach Europa über die Nordostpassage.
Neben dem Sammeln von Erfahrungen dienen die Fahrten dazu, sich als bevorzugter Partner der russischen Unternehmen und Behörden zu positionieren, um an der Entwicklung der Mineralindustrie des Landes Anteil zu haben. Die Beluga-Reederei ist Spezialist für die Beförderung von Industrieausrüstungen für die Offshoreindustrie sowie dem Hafenausbau.
Im August/September durchfuhr der Erzfrachter NORDIC BARENTS auf dem Weg vom norwegischen Hafen Kirkenes nach China mit 41.000 t Eisenerzkonzentrat an Bord das Seegebiet. Das Schiff hat laut Information der dänischen Reederei Nordic Bulk Carriers die höchste Eisklasse 1a und erhielt dadurch ohne größere Probleme die Transiterlaubnis der russischen Behörden. Trotzdem werden zwei Atomeisbrecher von Rosatomflot im östlichen Teil der Arktis die Fahrrinne öffnen müssen. Die Fahrt erfolgt in Zusammenarbeit mit der norwegischen Tschudi-Reederei, die 2006 eine Tochtergesellschaft gründete und das Bergwerk in Sydvaranger wiedereröffnete. Der Bergwerksbetrieb ist durch die steigenden Rohstoffpreise und die chinesische Nachfrage wieder attraktiv geworden. Diese Fahrt wurde in der Presse fälschlicherweise als erste Passage einer westlichen Reederei bezeichnet.
Eisbrecherbegleitung wird auf längere Zeit aber aus Sicherheitsgründen weiter notwendig sein. Die Eisbrechertarife der Northern Sea Route Administration (NSR) werden pro Tag berechnet und liegen zwischen 4,3 und 17 USD/Tonnen, sodass fünf- bis sechsstellige Beträge zu entrichten sind. Bei den Beluga-Fahrten wurden diese durch den Endverbraucher getragen, während Nordic Bulk Carriers mit den russischen Behörden Geheimhaltungspflicht vereinbarte. Dadurch ist es Außenstehenden nicht möglich, sich ein reelles Bild von den Kosten zu machen und offiziell genannte Einsparungen in das richtige Verhältnis zu setzen. Gerade die eskalierenden Eisbrecherkosten zwangen das russische Bergbauunternehmen Norilsk Nickel in den letzten Jahren, eine eigene Flotte von fünf Schiffen zu bauen, um Erz von Dudinka auf der Halbinsel Taimyr nach Murmansk zu verschiffen. In Schifffahrtskreisen wird nicht damit gerechnet, dass das Frachtaufkommen in absehbarer Zeit eine Größe erreichen wird, die eine volle Umlage der Betriebskosten der Eisbrecher auf passierende Schiffe möglich machen wird, um den Reedern nicht den ökonomischen Anreiz zu nehmen.
Ein weiterer Kostenpunkt liegt darin, dass die Kapitäne an Bord aus Russland bzw. den GUS-Staaten kommen müssen, um ein Schiff durch die Nordostpassage zu führen. Sind diese nicht von vornherein bei der Reederei angestellt, sind sie ein zusätzlicher nicht unerheblicher Kostenfaktor.
Das Praktische – Navigation und Infrastruktur
Nordsibirien ist dünn besiedelt, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wegfall finanzieller Zuschüsse für die Bevölkerung und zusätzlichen Sozialleistungen wie Frühverrentung setzte eine massive Entvölkerung ein. Insbesondere für Ostsibirien wird von regelrechten Geisterstädten berichtet. Die Hoffnung der russischen Regierung ist es, dass der kommende massive Ausbau der Rohstoffindustrie, allen voran Gas und Öl, diesen Trend umkehren wird.
Die NSR unterhält einen umfangreichen meteorologischen Dienst und die Eisverhältnisse werden per Satellit bzw. Bordhubschraubern der Eisbrecher überwacht. Der arktische Sommer kann sehr nebelig sein und beeinträchtigt damit die wenigen geeigneten Monate. Der Seeweg ist noch nicht komplett kartiert, aber die NSR gibt Empfehlungen zu Routen, Ankerplätzen und Nothäfen heraus. Die Wassertiefe zwischen dem sibirischen Festland und den russischen Inseln setzt nur in der Yugorski-Straße und eventuell der Dimitri-Laptev-Straße Grenzen für die Schiffsgröße. Besonders östlich der Taimyr-Halbinsel sind die Abstände zwischen Nothäfen jedoch lang, Reparaturmöglichkeiten sind kaum gegeben, und die Anzahl der Schlepper ist begrenzt, ganz zu schweigen von ihren eventuellen Reaktionszeiten.
Wie viele Schiffsunglücke es zu Sowjetzeiten gab, ist zumindest im Westen nicht bekannt. Wie schnell aber Unfälle passieren können, illustrierte die diesjährige Versorgungsfahrt zweier russischer Frachter, die bei schlechter Sicht kollidierten. Dank Doppelrumpfkonstruktion gab es keine Ölaustritte. 2009 lief die PETROSAVODSK auf ein unbekanntes Riff bei der Bäreninsel und die Kosten für ihre Bergung werden auf 15 Millionen USD geschätzt.
Von russischer Seite wurde angekündigt, dass das Netz der Seenotstellen entlang der Nordostpassage um zehn Basen erweitert und vier Millionen USD in jede dieser Stationen investiert werden soll. Welche Ausrüstung sie erhalten sollen, wurde nicht weiter aufgeführt. Ein weiteres russisches Projekt ist die Weiterentwicklung der Eisbrecherflotte. Russlands Regierung, allen voran Ministerpräsident Putin, räumt der Entwicklung der »Nördlichen Dimension« hohe Priorität ein. Im Vorjahr wurden die Konstruktionsarbeiten für einen neuen Typ Kernreaktor für die Eisbrecherflotte begonnen. Neue und mehr Eisbrecher werden nicht nur benötigt, um die Nordostpassage ganzjährig offen zu halten. Auch die Rohstofferschließung über das sibirische Festland hinaus, wenn die Aufteilung der Arktis zwischen den Anrainerstaaten vollzogen ist, wird trotz schmelzenden Eises Eisbrecherkraft verlangen.
Ausblick
Die jetzt begonnene Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Die Schifffahrt wird sich auf die Versorgung der Bevölkerung und den wachsenden Bergbausektor konzentrieren. Bei sinnvoller Lösung der Kostenfrage für den Eisbrechereinsatz könnte die Nordostpassage attraktiv werden für den Transport von Massenschuttgütern, Öl und Gas zwischen dem nördlichen Eurasien und Ostasien. Für Containerschiffe ist die Route weniger attraktiv, da es kein Netz von Hafeneinrichtungen für sie gibt, Frachtaufnahme unterwegs nur in geringem Maße möglich ist und Häfen aufgrund ihrer Wassertiefe nur über Feederschiffe beliefert werden können.